Theodor Storms "Schimmelreiter"

173. Veranstaltung der Humboldt-Gesellschaft am 23.11.2004 von Dr. Christian Neumann (Gastvortrag)

Der Schimmelreiter – oder: Der Fluch über der Aufklärung
Eine plurale Lektüre der Deichnovelle Theodor Storms


Der Referent hat der Humboldt-Gesellschaft
seinen Vortrag zur Verfügung gestellt



Liebe Zuhörer,

ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Beginnen möchte ich mit einem kleinen Gedicht von Eichendorff, das mir vor kurzem beim Frühstücken ins Auge fiel. In einer Berliner Morgenzeitung musste es als Aufhänger herhalten für eine Glosse, in der es um den stetig zunehmenden Lärmpegel der Weltmeere ging:

Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort (1838).

Hier wird in wenigen Worten ein für die romantische Epoche charakteristisches Weltbild umrissen. Die schnöde Alltagswirklichkeit (zu der z.B. die Lektüre eines solches Blattes zum Frühstück gehören dürfte) galt als die niedrigste Stufe einer vielschichtigen und tendenziell unendlichen Welterfahrung. Das poetische Wort eröffnete den Zugang zu den transzendenten Sphären der Wirklichkeit. Es vermochte die Welt aus ihrer Selbstvergessenheit zu erwecken, jedenfalls für denjenigen, der so etwas wie ein poetisches Gemüt hatte. Die Poesie war den Romantikern das Medium, um die Entzauberung der Welt wieder rückgängig zu machen. Ein halbes Jahrhundert später, im Zeichen des Positivismus und Darwinismus, war der Fluchtweg in metaphysische Welten endgültig verstellt, aber die Poesie hatte ihre Zauberkraft dennoch nicht eingebüßt. Das hört sich in Storms Lyrik zum Beispiel so an:


Über die Heide

Über die Heide hallet mein Schritt;
Dumpf aus der Erde wandert es mit.

Herbst ist gekommen, Frühling ist weit –
Gab es denn einmal selige Zeit?

Brauende Nebel geisten umher;
Schwarz ist das Kraut und der Himmel so leer.

Wär ich hier nur nicht gegangen im Mai!
Leben und Liebe – wie flog es vorbei! (1875)


In diesem Gedicht kommt die Grundbefindlichkeit Theodor Storms (1817-1888) in eindringlicher Weise zum Ausdruck. Es entstand anlässlich des Todes seines Schwiegervaters Ernst Esmarch, der im Februar 1875 starb, also 10 Jahre nach dem Tod seiner Tochter Constanze, die Storms erste Frau war. Storm schrieb dazu:

"Das Gedicht entstand, als ich zum Begräbnis meines Onkels und Schwiegervaters fuhr. Auf der weiten Heide, durch die der Weg führte, war ich einst mit ihr gegangen, der das Gedicht ‚Trost‘ galt und die mich schon lang auf Nimmerwiederkehr verlassen hatte."

Die Verlusterfahrung, die Storm hier anspricht, führt ins Zentrum seines Schreibens. Ausgangspunkt ist der Tod seines Schwiegervaters, der ihn sogleich an einen schmerzlicheren Verlust erinnert, den seiner Frau, aber auch dieser Verlust wird erfahren auf der Folie eines Lebensgefühls, das auch in scheinbar glücklichen Momenten den künftigen Verlust immer schon antizipiert. Das in Storms Kommentar erwähnte Gedicht "Trost" lautet:

So komme, was da kommen mag! / Solang du lebest, ist es Tag. / Und geht es in die Welt hinaus, / Wo du mir bist, bin ich zu Haus. / Ich seh dein liebes Angesicht, / Ich sehe die Schatten der Zukunft nicht.

Die Verneinung im letzten Vers ich sehe die Schatten der Zukunft nicht" ist reines Wunschdenken; denn wenn er die Schatten nicht gesehen hätte, hätte er sie in seinem Text wohl kaum erwähnt. Das wäre nur im Falle einer Nichtidentität von Autor und lyrischem Ich bzw. einer Ironisierung denkbar. Auch wenn die Entstehung des Gedichtes im Jahre 1853 vom bevorstehenden Wegzug der Familie Storm aus Husum ins preußische Exil überschattet war (1), so zeigt sich hier ein Grundgefühl, das in Storms Texten immer wiederkehrt: Das Glück ist vom Verlust bedroht, ja, mehr noch, es ist im Grunde immer schon verlorengegeben, wie es anklingt im zweifelnden Ton der Frage: "Gab es denn einmal selige Zeit?" Wer den neuen Wim-Wenders-Film "Land of Plenty" gesehen hat, wird sich vielleicht noch an den Satz "Heimat ist für mich kein Ort. Heimat sind die Menschen" erinnern. Bei Storm ist Heimat nur auf die Präsenz eines einzigen Menschen bezogen, nämlich seiner Frau: "Wo du mir bist, bin ich zu Haus". Doch wenn jemand sein ganzes Glück in der Liebe zu nur einem Menschen sucht, ist die Bedrohung des Verlustes umso größer, und die Schatten der Zukunft lassen sich nicht mehr vertreiben. Deshalb kann die Sehnsucht nach Heimat weder an einem Ort noch an einem Menschen wirklich gestillt werden, sich richtet sich, wie Thomas Mann über Storm sagte, "auf das Versunkene, Verlorene, das durch keine Realität gestillt werden kann." In "Auf der Heide" ist die heimatliche Landschaft alles andere als eine Idylle. Vielmehr wird sie beschrieben in Bildern der Verlassenheit und Öde: "Brauende Nebel geisten umher, schwarz ist das Kraut und der Himmel so leer". Dieses Gefühl metaphysischer Obdachlosigkeit korrespondiert mit einer bodenlosen Existenzempfindung: "Dumpf aus der Erde wandert es mit." Weil nichts mehr dem Spiegelungsverlangen des Ichs antwortet, weder ein himmlischer Vatergott noch eine mütterlich-bergende Erde, in der man heimatlich Wurzeln schlagen könnte, wird nur noch das Echo des eigenen Schrittes aus dem Hohlraum unter den Füßen wahrgenommen – eine unheimliche Erfahrung, in der das Eigene zum anderen, zum Fremden, zum nicht mehr Kontrollierbaren mutiert, wie es sich in der personifizierenden Verwendung des Personalpronomens "es" bekundet: "Dumpf aus der Erde wandert es mit." Hier wird die für Storms Texte so typische Doppelbödigkeit geradezu thematisch. Und am Schluss des Gedichtes steht ein Erinnerungsbild, nämlich die Spur eines verflossenen Glückes, das freilich das aktuelle Verlassenheitsgefühl als umso unerträglicher erscheinen lässt: "Wär ich hier nur nicht gegangen im Mai! Leben und Liebe – wie flog es vorbei!" Sicherlich ist hier zunächst der Verlust seiner Frau Constanze angesprochen, der Storm in ein Gefühl tiefster Verlassenheit und Einsamkeit gestürzt hat, trotz seiner großen Familie mit sechs Kindern und seiner zweiten Heirat nur ein Jahr später. Aber es geht um mehr als das rein Biographische, es geht um eine Konstante in Storms gesamtem Schaffen, um eine grundlegende Daseinserfahrung. Das Zauberwort der Poesie, das den Romantikern den Zugang zur eigentlichen Wirklichkeit hinter der Fassade der Alltagserfahrung eröffnete, das gibt es auch noch bei Storm, aber es schließt keine metaphysischen Welten mehr auf, sondern es eröffnet eine Erinnerungsperspektive auf ein versunkenes irdisches Glück, von dem nur noch Spurenelemente in die Gegenwart hinübergerettet werden konnten. Die Zeitangabe "im Mai" bezieht sich weniger auf die Jahreszeit als auf den Weg durchs Leben, der nichts anderes ist als die zunehmende Entfernung vom angedeuteten ursprünglichen Glück und der nur auf ein Ziel zusteuert, das durch die düsteren Metaphern des Gedichtes antizipiert wird. Irgendwie scheint mir zu diesem hoffnungslosen Voranschreiten durchs Leben in Richtung Tod ein Diktum Horkheimer / Adornos zu passen: "Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression". Womit wir bei Hauke Haien angelangt wären, dem Helden des "Schimmelreiters", dessen Lebensweg durch die Schlüsselwörter Fortschritt, Fluch und Regression abgesteckt ist, wobei Fortschritt, anders als im Gedicht, auch als persönlicher, technischer und sozialer Fortschritt zu verstehen ist. Doch auch Haukes Schritte durchs Leben haben einen unheimlichen Nachhall, auch seine Lebensgeschichte ist durch und durch doppelbödig und wird zudem uns Lesern zugänglich gemacht durch eine gleich dreifach vermittelte Erinnerungsperspektive, bei der allerdings das in dem Gedicht noch angedeutete ursprüngliche Glückserlebnis völlig fehlt – denn Hauke wächst mutterlos auf, mutterseelenallein verbringt er seine Kindheit am Deich. Besser geht es – scheinbar jedenfalls – dem Rahmenerzähler der Schimmelreiter-Novelle, einem alten Mann, den man unschwer als den Autor selbst identifizieren kann, und der die Novelle mit folgenden Sätzen einleitet:

"Was ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor reichlich einem halben Jahrhundert im Hause meiner Urgroßmutter, der alten Frau Senator Feddersen, kund geworden, während ich, an ihrem Lehnstuhl sitzend, mich mit dem Lesen eines in blaue Pappe eingebundenen Zeitschriftenheftes beschäftigte; ich vermag mich nicht mehr zu entsinnen, ob von den "Leipziger" oder von "Pappes Hamburger Lesefrüchten". Noch fühl ich es gleich einem Schauer, wie dabei die linde Hand der über Achtzigjährigen mitunter liebkosend über das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt. Sie selbst und jene Zeit sind längst begraben; vergebens auch habe ich seitdem jenen Blättern nachgeforscht, und ich kann daher um so weniger weder die Wahrheit der Tatsachen verbürgen als, wenn jemand sie bestreiten wollte, dafür aufstehen; nur so viel kann ich versichern, dass ich sie seit jener Zeit, obgleich sie durch keinen äußeren Anlass in mir aufs neue belebt wurden, niemals aus dem Gedächtnis verloren habe."

Dass die Rahmenerzählung autobiographische Züge trägt, macht die namentliche Erwähnung der Urgroßmutter deutlich – Elsabe Feddersen (1741 – 1829) war Th. Storms Urgroßmutter mütterlicherseits, die Mutter seiner geliebten Großmutter Magdalena Feddersen (1766-1854), welche 1788 den Kaufmann und Senator Simon Woldsen heiratete. Anderes hat Storm freilich dazuerfunden: Die vom Rahmenerzähler wiedergegebene Geschichte spielt nämlich eigentlich an der Weichselmündung und nicht in der Hattstedter Marsch nahe Husum, und Storm kann sie frühestens in seinem zwanzigsten Lebensjahr (da war die Urgroßmutter längst tot) kennengelernt haben, denn sie erschien 1838 in den von Johann Joseph Christian Pappe in Hamburg herausgegebenen "Lesefrüchten vom Felde der neuesten Literatur des In- und Auslandes", und zwar als Nachdruck aus dem "Danziger Dampfboot" vom selben Jahr. 1843 schrieb Storm an seinen Freund Theodor Mommsen: "Der Schimmelreiter, so sehr er auch als Deichsage seinem ganzen Charakter nach hierher passt, gehört leider nicht unserm Vaterlande." Das bedeutet, dass der Rahmenerzähler zwar stark autobiographische Züge trägt, aber dennoch nicht mit dem Autor identisch ist – er ist letztlich eine fiktionale Figur. Festzuhalten jedoch ist, dass eine verinnerlichte physiologische Sensation (man denke an Prousts Madeleine) die Erinnerungsperspektive in Gang setzt: "Noch fühl ich es gleich einem Schauer, wie dabei die linde Hand der über Achtzigjährigen mitunter liebkosend über das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt." Das sind die Zauberformeln Storms: körperliche Gefühle, der zufällige Blick auf ein Bild, der Klang eines Namens. Das wohl berühmteste Beispiel dafür ist der Rahmen der frühen Novelle "Immensee" (1849):

"Nachdem der Alte Hut und Stock in die Ecke gestellt hatte, setzte er sich in den Lehnstuhl und schien mit gefalteten Händen von seinem Spaziergange auszuruhen. – Wie er so saß, wurde es allmählich dunkler; endlich fiel ein Mondstrahl durch die Fensterscheiben auf die Gemälde an der Wand, und wie der helle Streif langsam weiterrückte, folgten die Augen des Mannes unwillkürlich. Nun trat er über ein kleines Bild in schlichtem schwarzen Rahmen. "Elisabeth!" sagte der Alte leise; und wie er das Wort gesprochen, war die Zeit verwandelt – er war in seiner Jugend."

Elisabeth: die Urgroßmutter aus dem "Schimmelreiter" hieß Elsabe – aber das nur am Rande. Hier spürt man die Nähe der Romantik, die Magie des Wortes, das die Erinnerungsperspektive aufschließt, noch viel stärker, aber auch in Storms später Novelle ist sie noch wirksam – nicht als Blick auf ein Bild, nicht als Nennung eines Namens, nur als vielleicht zufällige physiologische Sensation – "gleich einem Schauer" – aber sicherlich ist nicht zufällig, auf wen sich diese Sensation bezieht: auf die Urgroßmutter mütterlicherseits nämlich, das heißt eine Repräsentantin der mütterlichen Welt, die dem Erzähler in seiner Kindheit ein Gefühl der Geborgenheit vermittelte, das gewiss auch nötig war, um die Abgründe der gelesenen Geschichte heil zu überstehen, aber es war nicht die Mutter selbst, nur eine Repräsentantin, ein Ersatz. Und auch in der Geschichte Hauke Haiens wird von einer Mutter nicht die Rede sein. Aber zwischen diese beiden Geschichten schiebt sich zunächst eine weitere, die des inneren Rahmenerzählers.

Es handelt sich dabei um einen Mann, der an einem kalten, stürmischen Oktobernachmittag nach einem Verwandtenbesuch im hohen Norden auf dem Deich in die Stadt zurückreitet und dabei eine seltsame Begegnung hat:

"Jetzt aber kam auf dem Deiche etwas gegen mich heran; ich hörte nichts; aber immer deutlicher, wenn der halbe Mond ein karges Licht herabließ, glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald, da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus einem bleichen Antlitz an. Wer war das? Was wollte der? – Und jetzt fiel mir bei, ich hatte keinen Hufschlag, kein Keuchen des Pferdes vernommen; und Roß und Reiter waren doch hart an mir vorbeigefahren."

Die unheimliche Erscheinung ruft beim modernen Leser eine Irritation hervor. Denn der innere Rahmenerzähler, der im Übrigen a ls durchaus vernünftiger und realistischer Mensch erscheint, weiß zu diesem Zeitpunkt noch nichts von dem Glauben der Bewohner des Marschdorfes an die Schimmelreitererscheinung, er erfährt erst anschließend im Wirtshaus davon. Doch wird diesem für die reale Existenz der Gespensterscheinung sprechenden Indiz gleich wieder gegengesteuert durch die nun einsetzende Erzählung des Schulmeisters, der das Nachtgespenst als Produkt des Aberglaubens abtut und eine dem Weltbild des modernen Rezipienten gemäße rationalistisch-realistische Version der Lebensgeschichte des Deichgrafen Hauke Haien präsentiert. Deren Ende wird auf das Jahr 1756 datiert, während die Handlung des inneren Rahmens im 3. Jahrzehnt des 19. Jh. und die Erzählzeit des äußeren Rahmens "reichlich ein halbes Jahrhundert später" angesiedelt wird, d.h. mit der Entstehungszeit der Novelle 1885 - 1888 konvergiert. Diese doppelte zeitliche Distanzierung erhöht zunächst einmal den Subjektivismus der Darstellung. Der Schulmeister kennt die Ereignisse auch nur vom Hörensagen und kann sie nur gebrochen durch sein vernunftorientiertes Weltbild präsentieren, während, wie er selbst einräumt und man auch direkt an der Reaktion der im Wirtshaus Anwesenden ablesen kann, andere die Dinge ganz anders dargestellt hätten. Andererseits wird gerade durch diese Perspektivierung auch wieder ein gewisses Maß an Objektivität erreicht, denn die berichteten Ereignisse werden nun von Zeugen beglaubigt, die zwar durch die zeitliche Distanz die Geschehnisse nicht selbst miterlebt haben, aber deren Spuren innerhalb ihrer Lebenswelt erfahren: den Deich, den Koog, den Spuk und die verschiedenen Erzählungen darüber. Dies verleiht zumindest den Grundzügen der Geschichte eine gewisse Glaubwürdigkeit, denn sie beziehen sich auf vorgegebene, unabhängig von den gegebenen Sehbedingungen existente Fakten. Die wichtigsten Etappen der vom Binnenerzähler berichteten Lebensgeschichte möchte ich nun kurz zusammenfassen:

Hauke wächst ohne Mutter und ohne Geschwister bei seinem Vater auf, einem wenig begüterten Marschbauern, der sich nebenbei als Landvermesser betätigt und als der klügste Mann im Dorfe gilt. Er verbringt seine Freizeit bei Wind und Wetter am Deich, mutterseelenallein, bringt sich selbst mit Hilfe eines auf dem Dachboden aufgestöberten Buches in holländischer Sprache die euklidische Geometrie bei und hat die Idee, dass man, um künftige Deichbrüche und Flutkatastrophen zu verhindern, die Deichabschrägung anders berechnen muss. Sein Vater verspottet ihn dafür. Er ist ein Einzelgänger ohne Kontakte zu Gleichaltrigen.

Später geht er als Kleinknecht in das Haus des Deichgrafen, den er ebenso wie dessen kluge Tochter Elke durch seine außergewöhnlichen Rechenkünste beeindruckt. Bald übernimmt er selbst die Deichrechnungen, wozu der alte Deichgraf, der sich mehr für fetten Entenbraten interessiert, kaum noch imstande ist. Nach dem Weggang des Großknechtes Ole Peters, seines Rivalen, steigt Hauke selbst zum Großknecht auf, erhöht sein Prestige im Dorf durch seinen Sieg im Eisboseln, einer friesischen Wintersportart, bei der Kugeln über die gefrorenen Marschgräben geworfen werden, und verlobt sich heimlich mit Elke. Nach dem Tod des alten Deichgrafen wird die Heirat möglich, da Elke ihrem Bräutigam noch vor der Hochzeit ihren gesamten Besitz vermacht und somit den reichsten Mann im Dorfe heiratet, eine conditio sine qua non für das Amt des Deichgrafen. Ihr Motto dabei ist: "Einem rechten Manne wird auch die Frau wohl helfen dürfen", und der Übernahme des von Hauke ohnehin de facto bereits ausgeübten Amtes steht damit nichts mehr im Wege.

Doch aufgrund seiner rigiden Amtsführung, die sich von der laxen Art seines Vorgängers deutlich abhebt, kommt es immer wieder zu Konflikten mit den Dorfbewohnern. Schließlich macht das gehässige Wort die Runde, der alte sei Deichgraf von seines Vaters, der neue aber von seines Weibes wegen. Tief gekränkt will Hauke nun allen zeigen, dass er allein aufgrund seines Verdienstes Deichgraf geworden ist. So beschließt er, seinen Jugendtraum zu verwirklichen und einen neuen Deich zu errichten mit einem sanfter abfallenden Profil und nebenbei auch einen neuen Koog zu gewinnen, von dessen Landfläche er sich allerdings gleich ein gehöriges Stück selbst sichert, was erneut böses Blut verursacht. Nach einer hitzigen Debatte gelingt es ihm, die Deichgevollmächtigten zu überzeugen, und das gigantische Unternehmen wird ins Werk gesetzt und nach 1 ½ Jahren Bauzeit erfolgreich abgeschlossen. Während dieser Zeit erhöht sich zwar einerseits der Respekt vor dem Deichgrafen, auf der anderen Seite wachsen aber auch Unmut und abergläubische Furcht bis hin zu dem Vorurteil, er stehe mit dem Teufel im Bunde. Zur suspekten Person wird Hauke zunächst durch den Schimmel, den er krank und bis zum Skelett abgemagert einem fahrenden Händler abgekauft und dann zu einem starken und wilden Tier aufgepäppelt hat, das außer Hauke alle anderen Reiter sofort abwirft. Das führt zu dem Gerücht, der Schimmel sei nichts anderes als das von den Toten auferstandene Pferdegerippe, das zuvor auf der unbewohnten, vom Ufer aus sichtbaren Hallig Jeverssand gelegen habe. Das Misstrauen verschärft sich später dadurch, dass Hauke den abergläubischen Ritualen seiner Deicharbeiter den Respekt verweigert, als er einen kleinen Hund, der geopfert werde sollte, weil angeblich etwas Lebiges in den Deich müsse, aus der Baugrube rettet. Und drittens wird er den Leuten unheimlich, weil er in einem Stoßgebet Zweifel an der Allmacht Gottes bekundet, als Elke nach der Geburt der kleinen Tochter Wienke im Kindbett zu sterben droht.

Doch diese Probleme können vorerst beigelegt werden, allerdings erweist sich die kleine Wienke als geistig behindert, was die Liebe Haukes zu der lang ersehnten Tochter aber nicht schmälert. Nachdem Hauke ebenfalls eine schwere Krankheit überstanden hat, entdeckt er Verschüttungen im alten Deich, die bei der nächsten Sturmflut zu einem Bruch führen könnten. Denn ein gefährlicher Priel war durch den Deichbau an diese Stelle umgeleitet worden. Doch Haukes krankheitsbedingte Schwächung verführt ihn dazu, den Dorfbewohnern, die nun nicht schon wieder mit Ausbesserungsarbeiten belästigt werden wollen, ausnahmsweise einmal nachzugeben und wider besseres Wissen die Gefahr nicht ernstzunehmen. Als die Sturmflut dann kommt, beordert Hauke Leute an die schadhafte Stelle, um diese zu verstärken. Doch beim Ritt über die Deichanlagen sieht er, dass sein Befehl missachtet wird. Statt den alten Deich zu verstärken, durchbrechen die Männer den neuen Deich, um den Koog zu überfluten und dadurch die Überschwemmung der Marsch zu verhindern. Aber auch dazu ist es bereits zu spät: Der Deich bricht an der schadhaften Stelle fast unter des Schimmels Hufen, und die in wahnsinniger Sorge um ihren Mann heranreitende Elke wird mitsamt dem Töchterchen in den Sog gerissen, worauf sich auch Hauke mit den Worten: "Herr Gott, nimm mich, verschon die anderen" mit seinem Schimmel in die Fluten stürzt.

Soweit die Erzählung des Schulmeisters. Er räumt allerdings selbst ein, dass die Wirtschafterin des jetzigen Deichgrafen (zur Erzählzeit, also um 1830) die Geschichte anders berichten würde. Nach ihrer Version soll z.B. das weiße Pferdegerippe nach der Flut wieder auf Jevers-hallig zu sehen gewesen sein. Auch der jetzige Deichgraf erklärt dem inneren Rahmenerzähler, der Schulmeister habe ihm wohl schön etwas weisgemacht, er gehöre nämlich zu den Aufklärern, und fühlt sich in seinem Aberglauben dadurch bestätigt, dass "drüben an der andern Seite" (d.h. dem heutigen Nordstrand) der Deich gebrochen sei, wie er es ja aufgrund der Schimmelreiter-Erscheinung vorausgesagt habe. Doch anschließend scheint wieder die aufgeklärte Version der Lebensgeschichte Hauke Haiens durch den Schlusssatz des inneren Rahmenerzählers bestätigt zu werden: "Am andern Morgen, beim goldensten Sonnenlichte, das über einer weiten Verwüstung aufgegangen war, ritt ich über den Hauke-Haien-Deich zur Stadt hinunter". Dieser Schluss weist Hauke nicht als dämonische Figur, sondern als technischen Neuerer aus, der die Naturbeherrschung der Menschen ein gutes Stück vorangetrieben hat. Dennoch bleibt rational unaufgelöst, wie dem inneren Rahmenerzähler am Abend zuvor auf dem Deich die Gespenstererscheinung begegnen konnte; insofern konvergiert seine Wahrnehmung – einmal die am Unwetterabend, einmal die am Sonnenmorgen – mit beiden Versionen, die er im Marschdorf zu hören bekommt, der abergläubischen und der aufgeklärten. Und dass die aufgeklärte am Schluss steht, ist zwar ein deutliches Signal für die Orientierung, die der Text vorgeben möchte, aber eine Austreibung des Aberglaubens wird damit dennoch nicht bewerkstelligt. Dafür ist die Verwüstung auch zu präsent, in der einsam und goldstrahlend der Hauke-Haien-Deich steht, als wäre er ein Selbstzweck, nicht aber ein Mittel zur Verhütung des Unheils; denn der Priel, der den Deich angreift, wurde schließlich nur umgeleitet und keineswegs beseitigt, und so verschafft sich die Natur an einer anderen Stelle wieder ihr Recht, das ihr von der Technik streitig gemacht wurde.

Darüber hinaus stellen weitere eingefügte Perspektivierungen den Geltungsanspruch der Erzählung des Schulmeisters in Frage. Trin‘ Jans, eine alte Frau, der Hauke in seiner Jugend den Kater totschlägt und die er kurz vor ihrem Tod in sein Haus aufnimmt, erzählt Haukes kleiner Tochter die Geschichte eines Wasserweibes, das durch das Schließen der Haffschleuse nicht zurück in die See konnte und schrie und sich mit ihren Fischhänden in die Haare griff und dann durch die Gräben zwischen den Fennen schwamm und die Hände aneinander schlug und die Arme aufhob, die wie Silber und Diamanten glänzten, aber nicht erlöst werden konnte, denn Wasserfrauen, so heißt es im Text, "sind Undinger, die nicht selig werden können". "Nicht selig!" wiederholte das Kind, und ein tiefer Seufzer, als habe sie das verstanden, hob die kleine Brust. Dagegen findet es keinen Zugang zu Haukes rationalistischen Deutungen der bedrohlichen Erscheinungen im Watt, die es für Seeteufel hält. Als der Vater ihr erklärt, dass die unheimlichen närrischen Gestalten im rauchenden Nebel nur arme hungrige Vögel seien, wird "keine Regung der verschlossenen Seele darin kund". Offensichtlich kann Trin‘ Jans mit ihren mythischen Geschichten von der Zerstörung der Naturgeister durch die Technik die Seele dieses Geschöpfes besser erreichen als der eigene Vater. Die eingefügte kleine Erzählung von der gefesselten Natur zeigt die Entfremdung männlich-rationalistischer Weltsicht von der hier als weiblich vorgestellten Natur auf. Der Aberglaube hingegen schürt zwar irrationale Ängste, erhält aber zugleich den Respekt vor der Autonomie der Natur als einer eigengesetzlichen Sphäre, die der Mensch u. U. zwar beeinflussen, aber sich nicht unterwerfen kann.

Aus diesen Überlegungen lässt sich folgendes Fazit ziehen: Die Hauptgeschichte entwirft zwar eine rationalistische Perspektive auf Hauke Haien, kontrastiert diese aber mit anderen Sichtweisen, so dass eine eindimensionale Deutung der Geschichte mit Hauke als aufgeklärtem frühbürgerlichen Neuerer, der im Dienste des Fortschritts gegen Aberglauben und gegen die Faulheit, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, ankämpft, schon auf dieser Textebene vereitelt wird.

Nun gibt es aber zusätzlich zu den verschiedenen Nebengeschichten, von denen ich nur eine, die vom Wasserweib, exemplarisch erwähnt habe und die die Perspektive des Schulmeisters als dominanter Vermittlungs- und Deutungsinstanz schon relativieren, noch eine latente Textebene, welche als eine Art Subtext fast den gesamten Verlauf der Binnenhandlung begleitet und eine zweite, ganz andere Geschichte von Hauke Haien erzählt. Damit, so glaube ich, wird die vorherrschende rationalistische Perspektive der Erzählung endgültig in Frage gestellt. In dieser Geschichte kommen Elemente zum Tragen, die für das soeben zusammengefasste Handlungsgerüst eher marginal sind. In Anlehnung an Sigmund Freuds Begriffspaar aus der "Traumdeutung" möchte ich diesen Subtext als latente Geschichte bezeichnen im Gegensatz zur manifesten Geschichte, welche die Erzählung des Schulmeisters mitsamt den erwähnten Nebenerzählungen aus anderen Figurenperspektiven umfasst. Zugang zu diesem Subtext bietet die in ihrer Gewaltsamkeit herausstechende Szene, in der der junge Hauke den Angorakater der alten Trin‘ Jans erwürgt. Ich möchte die Stelle einmal vorlesen:

"Als er heute, seine Jacke auf der Schulter, heimging, trug er nur einen ihm noch unbekannten, aber wie mit bunter Seide und Metall gefiederten Vogel mit nach Hause, und der Kater mauzte wie gewöhnlich, als er ihn kommen sah. Aber Hauke wollte seine Beute – es mag ein Eisvogel gewesen sein – diesmal nicht hergeben und kehrte sich nicht an die Gier des Tieres. ‚Umschicht!‘ rief er ihm zu, ‚heute mir, morgen dir; das hier ist kein Katerfressen!‘ Aber der Kater kam vorsichtigen Schrittes herangeschlichen; Hauke stand und sah ihn an, der Vogel hing an seiner Hand, und der Kater blieb mit erhobener Tatze stehen. Doch der Bursche schien seinen Katzenfreund noch nicht so ganz zu kennen; denn während er ihm seinen Rücken zugewandt hatte und eben fürbaß wollte, fühlte er mit einem Ruck die Jagdbeute sich entrissen, und zugleich schlug eine scharfe Kralle ihm ins Fleisch. Ein Grimm, wie gleichfalls eines Raubtiers, flog dem jungen Menschen ins Blut; er griff wie rasend um sich und hatte den Räuber schon am Genicke gepackt. Mit der Faust hielt er das mächtige Tier empor und würgte es, daß die Augen ihm aus den rauhen Haaren vorquollen, nicht achtend, daß die starken Hintertatzen ihm den Arm zerfleischten. ‚Hoiho!‘ schrie er und packte ihn noch fester; ‚wollen sehen, wer’s von uns beiden am längsten aushält!‘ Plötzlich fielen die Hinterbeine der großen Katze schlaff herunter, und Hauke ging ein paar Schritte zurück und warf sie gegen die Kate der Alten. Da sie sich nicht rührte, wandte er sich und setzte seinen Weg nach Hause fort."

Dieser scheinbar sinnlose Mord an einem Tier fügt sich nicht ein in das Charakterbild des Aufklärers Hauke Haien, des kühlen Rechners, des Gegners abergläubischer Unvernunft, des zukünftigen Deichgrafen. Vielmehr wird der junge Hauke hier mit genau denselben Attributen beschrieben, die seinem Widersacher, dem Kater, eignen. Zwei instinktgetriebene Wesen tragen einen Kampf von gleich zu gleich aus. In Hauke kommt das Raubtier mit seiner ganzen Aggressivität zum Vorschein. Als gleich darauf die alte Trin‘ Jans das tote Tier entdeckt, das Hauke verächtlich gegen ihre Kate geschleudert hat, ruft sie ihm folgende Worte nach: "Du sollst verflucht sein! Du hast ihn totgeschlagen, du nichtsnutziger Strandläufer; du warst nicht wert, ihm seinen Schwanz zu bürsten."

Denn der Kater ist mehr als nur ein Haustier für Trin’: er ist das Einzige, was ihr Sohn, ein Matrose, der vor der nahe gelegenen Jevershallig im Sturm zu Tode gekommen ist, ihr hinterlassen hat. Und so hat sie ihre Mutterliebe auf den Kater übertragen. Sie beklagt ihren Verlust bei Haukes Vater mit folgenden Worten:

"Kein Kind, kein Lebigs mehr! [...] Der aber [...], wenn ich winters am Spinnrad saß, dann saß er bei mir und spann auch und sah mich an mit seinen grünen Augen! Und kroch ich, wenn’s mir kalt wurde, in mein Bett – es dauerte nicht lang, so sprang er zu mir und legte sich auf meine frierenden Beine, und wir schliefen so warm mitsammen, als hätte ich noch meinen jungen Schatz im Bett!"

Durch Haukes Tat wird ihr sozusagen der Sohn zum zweiten Mal genommen. Ganz nebenbei macht der Text deutlich, welch intime Beziehung auch in körperlicher Hinsicht die Mutter mit ihrem Sohn verband. Dagegen wird der von ihr verfluchte Hauke, der ja ein mutterloser Sohn ist, aufs Gröbste abgewertet.

Hauke selbst spielt die Tat herunter. Er ruft ihr zu, dass er ihr einen neuen Kater besorgen würde, und setzt, "scheinbar auf nichts mehr achtend", seinen Weg fort. Doch ist diese Gleichgültigkeit nur äußerlich, denn "die tote Katze mußte ihm doch im Kopfe Wirrsal machen" , da er, statt in seines Vater Haus zurückzukehren, noch weit auf dem Deich nach Süden der Stadt zugeht. Es ist zu vermuten, dass ihn hier Schuldgefühle quälen, die allerdings schnell in Vergessenheit geraten.

Dieser scheinbar marginale Zwischenfall, der ohne Relevanz für die wesentlichen Handlungsschritte zu sein scheint und wie gesagt im deutlichen Widerspruch zum sonstigen Charakterbild Hauke Haiens steht, erhält jedoch schon dadurch eine gewisse Bedeutung, dass er einen Wendepunkt in Haukes Leben markiert. Denn nach seiner Rückkehr fordert sein Vater ihn auf, sich nun endlich einen Dienst zu besorgen und damit auch eine neue Wohnung. Hauke ist sofort einverstanden, denn (so sagt er) "man wird grimmig in sich, wenn man’s nicht an einem ordentlichen Stück Arbeit auslassen kann". Er geht als Kleinknecht in den Dienst des Deichgrafen, womit sein langsamer Aufstieg beginnt. Von nun an kommt fast nur noch die rationale Seite seines Wesens zur Geltung. Das Wilde, Irrationale, Raubtierhafte und Gewaltsame, das im kindlichen Hauke noch koexistierte mit seiner Leidenschaft fürs Rechnen und Planen wird aus seiner bewussten Persönlichkeit weit gehend verdrängt und kommt nur noch gelegentlich in Form kurzer, aber heftiger Triebdurchbrüche zum Vorschein. Die aggressive Energie wird ansonsten "an einem ordentlichen Stück Arbeit" ausgelassen, d.h. in sein Lebenswerk, den Bau des neuen Deiches und die damit verbundene Landgewinnung gesteckt.

Nun rückt die ganze Affäre für längere Zeit aus dem Blickfeld der Erzählung und gerät auch bei Hauke fast in Vergessenheit. Trin‘ Jans wird in der Folge nur noch zweimal kurz erwähnt. Dabei ist festzuhalten, dass Hauke entgegen seiner anfänglichen Absichtserklärung ihr den toten Kater nicht ersetzt, obwohl er erfährt, dass es der Alten schlecht geht, da die Ratten ihre Enten wegfressen. Doch viele Jahre später, gegen Ende der Erzählung, taucht Trin‘ aus dem Dunkel des Vergessens wieder auf, als Elke die hilflose alte Frau im Deichgrafenhaus zum Sterben einquartiert. Damit erlangt Trin‘ Jans den Status einer nicht mehr episodischen, sondern einer handlungstragenden Figur. Durch ein ganzes Netz von Verweisen wird nämlich nun ihre Lebensgeschichte mit der des Deichgrafen verknüpft. Die Rolle der Mittler wird dabei von Tierfiguren übernommen, wie ja auch die erste Verbindung zwischen Hauke und Trin‘ vom Text über eine Tierfigur, den Kater, hergestellt wurde. Dieser kommt nun auch gleich wieder ins Spiel, indem Trin‘ bei ihrer Ankunft der kleinen Wienke einen mit dem weißen Katerfell überzogenen Schemel als Sitzgelegenheit mit den Worten anbietet: "Ein Angorakater ist’s gewesen – so groß! Aber dein Vater hat ihn totgeschlagen. Wenn er noch lebig wäre, so könntst du auf ihm reiten."

Nachdem sie die Schwachsinnigkeit des Mädchens bemerkt hat, murmelt sie: "Du strafst ihn, Gott der Herr! Ja, ja, du strafst ihn!", woraus deutlich wird, dass Wienkes Behinderung in Trin‘ Jans‘ Augen eine Spätfolge des Katermordes ist. Der Fluch, den sie damals über Hauke Haien ausgesprochen hat, hat sich für sie nun erfüllt. Indem die Strafe für Haukes Verbrechen an dessen Kind vollzogen wurde, ist gewissermaßen Gleiches mit Gleichem vergolten worden.

Damit scheint Trins Rachebedürfnis besänftigt zu sein, denn sie überlässt ihre gezähmte Möwe namens Claus, die sie bisher als Ersatz für den Kater und damit sozusagen als zweiten Sohnesersatz (2) eifersüchtig gehütet hat, nun der kleinen Wienke, die ihr, wie es heißt, "den Vogel allmählich völlig abgewann."

Der zweite Spielgefährte Wienkes ist der kleine gelbe Hund Perle, den Hauke beim Deichbau aus der Grube gerettet hat. Ebenso wie der Kater und die Möwe ist auch dieser Hund ein Kinderersatz. Denn eigentlich muss dem Aberglauben gemäß ein Kind in die Grube, wie es vor langer Zeit auch mit einem Zigeunerkind geschehen sein soll (hier bezieht sich Storm auf eine holsteinische Volkssage). Dementsprechend hatte Hauke einmal halb im Scherz zu Elke, lange bevor der Deichbau in Angriff genommen wurde, gesagt: "Da ist es gut, daß wir kein Kind haben, sie würden es sonst noch schier von uns verlangen!". Hier klingt also die Möglichkeit an, dass die Schwachsinnigkeit des Kindes auch als Strafe für das vorenthaltene Deichopfer gedeutet werden kann. In der Rettung des kleinen Hundes aus der Grube zeigt sich einerseits Haukes Mitgefühl mit der geschundenen Kreatur. Diese Empathie deutet hin auf eine gelungene Sublimierung der wilden Jagdleidenschaft seiner Jugendzeit. Andererseits kann die Rettung des Hundes auch als Wiedergutmachungsversuch für den Katermord gewertet werden. Brachte der jugendliche Hauke in einem sinnlosen Akt den Kater um und erzeugte großes Leid bei dessen Besitzerin, für die er wie ein Sohn war, so rettet Hauke nun ein Tier vor einem – zumindest in seiner aufgeklärten Denkweise – ebenfalls sinnlosen Tod, und dieses Tier ist wiederum ein Kinderersatz. Auf diese Weise versucht er einen Makel zu tilgen durch eine gleichwertige gute Handlung. Insofern kann die Rettung des Hundes als unbewusster Wiedergutmachungsversuch für den Katermord verstanden werden – die Schuld ist wie gesagt von Hauke bisher nicht getilgt worden. Die Möwe stirbt dann später auf Haukes letztem Ritt unter den Hufen seines Schimmels, womit der Katermord am Substitut wiederholt wird. Dieses Ereignis, zugleich eine Vorausdeutung auf Haukes eigenen Untergang, lässt vermuten, dass alle Wiedergutmachungsversuche die Schuld nicht auslöschen konnten. Zudem ist der auf ihm lastende Fluch von Trin‘ Jans auf ihrem Sterbebett wieder in Erinnerung gerufen worden. Mit ihren letzten, an ihren ertrunkenen Sohn gerichteten Worten: "Hölp mi! Hölp mi! Du bist ja bawem Water... Gott gnad de annern!" kündigt sie die Sturmflut an und jagt sogar dem sonst so rationalistischen Hauke einen furchtbaren Schreck ein: ‚Gott gnad de annern!‘ sprach es leise in ihm. ‚Was wollte die alte Hexe? Sind denn die Sterbenden Propheten - - ?‘ ".

Aus dem Glauben, den der Deichgraf diesem Orakel schenkt, wird deutlich, wie sehr er unbewusst die ganze Zeit unter dem Bann des Fluches gestanden hat, den er durch eine Reihe von Wiedergutmachungsversuchen vergeblich außer Kraft zu setzen versucht hat und der ihn bis in seinen Tod und darüber hinaus verfolgen wird.

Auch die vierte Tierfigur, der Schimmel, ist indirekt mit Trin‘ Jans verknüpft. Den Gerüchten zufolge taucht der Schimmel in dem Moment auf der Bildfläche auf, als das Pferdegerippe angeblich von der vorgelagerten Jevershallig verschwunden ist. Dieser Mythos stützt sich auf die reale Erscheinung des Tieres. "Rauhhaarig und mager, daß man jede Rippe zählen konnte, und die Augen lagen ihm matt und eingefallen in den Schädelhöhlen", flößt er Haukes Knechten Entsetzen ein, und auch später, als er wieder zu Kräften gekommen ist und außer seinem Herrn jeden Reiter sofort abwirft, hat er mit seinen feurigen braunen Augen, die aus einem fleischlosen Angesicht blitzen, immer noch die Ausstrahlung, als reite ihn der Teufel. Jevershallig, der mythische Ursprungsort des Schimmels, ist aber zugleich der Todesort des Sohnes von Trin‘ Jans, und den Blick starr in diese Richtung gewandt, spricht die alte Frau ihre letzten unheilverkündenden Worte. Insofern sind die vier Haustiere in der Novelle – der Kater, der Hund, die Möwe und der Schimmel – allesamt als Mittler zwischen der Welt Trin‘ Jans‘ und derjenigen Hauke Haiens aktiv und haben Ähnlichkeit mit den Tricksterfiguren der Mythen.(die oft zwischen Menschen- und Tiergestalt wechseln und zwischen den beiden Welten der Menschen und der Götter vermitteln; in der griech. Mythologie Hermes). Während der Kater und die Möwe eine Substitutbeziehung mit Trin‘ Jans‘ ertrunkenem Sohn haben und von dort aus in Haukes Bereich hineinwirken, steht der Hund in Beziehung zu Haukes Kind, ist aber auch durch seine Funktion als Wiedergutmachungsversuch mit Trins‘ Kater symbolisch verknüpft, während der mit Hauke bald zu einer fast symbiotischen Einheit verschmolzene Schimmel über den Todesort (und mythischen Wiedergeburtsort) Jevershallig mit der Welt Trin‘ Jans‘ verbunden ist.

Aus all dem ergibt sich die Frage, welchen Zweck diese vom Text hergestellte subtile Vermittlung zwischen der Welt Hauke Haiens und der Welt Trin‘ Jans verfolgt und warum innerhalb dieses Subtextes dem Katermord und dem darauf ausgesprochenen Fluch eine solch entscheidende, den Untergang Hauke Haiens motivierende Bedeutung zugeschrieben wird. Und in welcher Beziehung steht diese düstere Geschichte eines Fluches, dem Hauke wegen einer Jugendsünde unentrinnbar ausgeliefert zu sein scheint, mit der manifesten Geschichte vom Aufstieg eines ehrgeizigen und fortschrittlichen jungen Marschbauern zum Deichgrafen?

Der Antwort kommt man auf die Spur, wenn man die Beziehung zwischen Trin‘ Jans und Hauke Haien genauer betrachtet. Die Verknüpfung zwischen beiden Figuren wird vom Text hergestellt über den Katermord, durch den Hauke ihr den Sohnesersatz raubt, so dass eine Mutter ohne Sohn zurückbleibt. Hauke selbst ist von vornherein ein Sohn ohne Mutter, seine eigene Mutter wird vom Erzähler mit keinem Wort erwähnt. Wenn von Haukes Elternhaus die Rede ist, ist ausschließlich der Vater gemeint. Wäre die Mutter wie in manch anderer Novelle Storms im Kindbett gestorben, so könnte man vom Erzähler erwarten, dass er diese Tatsache zumindest der Erwähnung wert findet. So aber drängt sich die Vermutung auf, dass die Mutter ausgespart wurde, nicht etwa, weil sie keinerlei Bedeutung für Haukes Entwicklung hätte, sondern im Gegenteil, weil wir es hier mit einem gravierenden Mutter-Sohn-Konflikt zu tun haben, der unbewusst ist und deshalb nicht direkt, sondern über Symbole vermittelt bzw. in verschobener Form dargestellt wird. Über die Darstellung unbewusster Vorstellungen in Träumen heißt es in Freuds "Traumdeutung": "Was in den Traumgedanken offenbar der wesentliche Inhalt ist, braucht im Traum gar nicht vertreten zu sein. Der Traum ist gleichsam anders zentriert." Wenn man die Analogie zu Träumen zulässt, könnte hier also eine Verschiebung eines wesentlichen Themas (der Mutterbeziehung) auf eine Nebenfigur (Trin‘ Jans) vorliegen, und zwar zum Zwecke der Abwehr einer unerwünschten oder unerträglichen Vorstellung (3). So gesehen besetzt Trin‘ Jans die Position der Mutter, die in einer spezifischen Weise vom Text auf die des Sohnes bezogen wird. Einerseits ist Trin‘ Jans eine liebende, aber auch besitzergreifende Mutter mit inzestuösen Tendenzen, und zwar gegenüber ihrem (im manifesten Text) eigenen, ertrunkenen Sohn und seinem Substitut, dem Kater, der ihr die Füße wärmt, als hätte sie noch ihren jungen Schatz im Bett (man beachte dabei, dass nicht sie die Wärme ausströmt, sondern dass sie vom Sohn gewärmt werden möchte). Auch die Möwe hütet sie so lange eifersüchtig, bis die kleine Wienke ihr den Vogel abgewinnt. Insofern sie aber gegenüber Hauke Haien die mütterliche Position besetzt, erweist sie sich als das genaue Gegenteil: sie wertet ihn ab als nichtsnutzigen Strandläufer, der nicht einmal wert ist, ihrem Kater den Schwanz (sic!) zu bürsten. Indem sie ihn verflucht, verstößt sie ihn an einen öden Ort, ganz, wie es seiner tatsächlichen mutterlosen Existenz als Strandläufer auch entspricht. Hauke hingegen besetzt die Sohnesposition gegenüber dieser Mutter dadurch, dass er die Bindung verleugnet: Indem er den Katermord begeht, beraubt er sie des Sohnes, und anschließend bagatellisiert er das Ganze, kümmert sich nicht weiter um sie, löst auch sein Versprechen, ihr einen neuen Kater zu besorgen, nicht ein, sondern vollzieht seine Wiedergutmachungsversuche an Ersatzobjekten, wovon Trin‘ freilich nicht viel hat. So gesehen könnte der Kater als Sohnessubsitut all das verkörpern, was den kindlichen Hauke affektiv an die Mutter gebunden hat. Mit diesem gewaltsamen Akt tötet er in sich selbst ab, was durch den Kater symbolisiert ist: die eigene kindliche Vitalität und Aggressivität, die triebhafte und spontane Seite seines Wesens, um von nun an seine Ziele auf planvolle, reflektierte und scheinbar vernünftige Art weiterzuverfolgen. Dieses Abtöten bzw. Verdrängen des Lebendigen in Hauke wird im Katermord symbolisch verdichtet dargestellt. Dabei wird ein längerfristiger Prozess zusammengefasst, der schon in frühester Kindheit, nämlich mit dem ungenannten Verlust der Mutter, eingesetzt haben muss. Aus dieser Perspektive repräsentiert Trin‘ Jans zusammen mit dem Kater die andere, fehlende Hälfte der Familie Hauke Haiens. Somit wird in der Novelle der mütterliche Teil abgespalten und entwertet oder anders ausgedrückt, die Mutterbeziehung der von Hauke Haien besetzten Sohnesfigur wird mit ihrem Konfliktpotential ins Unbewusste (des Textes) verdrängt, indem der Text einerseits eine Leerstelle und andererseits eine Nebenfigur bereitstellt, um den Konflikt in symbolischer Form auszutragen. Der bereits verstorbene Sohn der Trin‘ Jans wäre dann die in die Vergangenheit zurückverlegte Verkörperung des zukünftigen Schicksals Hauke Haiens (im Freuds Traumdeutungen finden sich häufig solche chronologischen Umkehrungen), wobei das Ganze mit der Wunschfantasie verknüpft wird, dass der elend Ertrunkene immerhin abgöttisch von der Mutter geliebt wurde, ganz im Gegensatz zu Hauke Haien selbst. Zusammenfassend könnte man diese Überlegungen so formulieren: Der über die Beziehung zwischen Hauke Haien und Trin‘ Jans dargestellte Mutter-Sohn-Konflikt besteht darin, dass zunächst die Mutter den Sohn verstoßen hat, dass der Sohn diese Tatsache, da sie für ihn unerträglich ist, verleugnet, und dass er mit dem Katermord nun seinerseits versucht, sich aus der Mutterbindung gewaltsam zu lösen, also das, was ihm angetan wurde, wie in einem Initiationsritus aktiv selbst herbeizuführen, um sich eine autonome Existenz jenseits mutterbezogener Bedürftigkeit aufbauen zu können. Das geht aber nur um den Preis der Unterdrückung seiner Gefühle, seines auf die Mutter gerichteten Begehrens und ebenso seiner auf dasselbe Objekt gerichteten Aggression, die in gefährlicher Weise frei flottiert und nun an ein "ordentliches Stück Arbeit" gebunden werden soll, sich aber in einigen Konfliktsituationen nur schwer niederhalten lässt. Die verschiedenen Tierfiguren, die ich als Kinderersatz gedeutet habe, bringen genau diese versuchte Abtötung des inneren Lebendigen zum Ausdruck: Kater und Möwe werden getötet, der Hund soll geopfert werden ("es muss was Lebigs‘ in den Deich"), der Schimmel war ausgehungert und misshandelt, als Hauke ihn erwarb. Die beiden letzteren Tiere rettet Hauke vor dem Tod, um sie dann zu zähmen, um ihre Naturhaftigkeit seinem Willen zu unterwerfen, während interessanterweise die beiden Haustiere der Trin‘ Jans halb wild bleiben (beim Kater bedarf dies wohl keiner weiteren Begründung, und die zahme Möwe fliegt jeden Winter mit ihrem Schwarm gen Süden). Haukes Schimmel hingegen scheint mir die unterworfene, im Grunde nur notdürftig verdrängte Triebnatur seines Herrn zu repräsentieren. Das Prekäre an dieser Verdrängung des Naturhaft-Lebendigen in Hauke wird durch den von Trin‘ Jans ausgesprochenen Mutterfluch symbolisiert. Dieser führt zu einer paradoxen Situation: Einerseits wird der Katermörder Hauke (der sich durch eben diesen Akt als Sohn der Mutter negiert) in eine mutterlose Verbannung (sozusagen in die Wüste des Triebverzichts) gestoßen, andererseits wird er aber gerade durch diesen Fluch wieder an die Mutterinstanz zurückgebunden, denn der Fluch verwehrt ihm letztlich den Aufbau einer eigenständigen Existenz. Diese Rückbindung macht der Text deutlich durch die zahlreichen Brücken, die er zwischen Haukes und Trins‘ Leben baut. Psychoanalytisch betrachtet steht der Fluch für die fortdauernde hochambivalente Bindung des Sohnes an die Mutter, die von seinem Schuldgefühl getragen wird. Das Gefühl, von der Mutter verstoßen zu sein, bekämpft er zunächst dadurch, dass er sich seinerseits gewaltsam, mithilfe eines aggressiven Aktes, von der Mutter losreißt, um sich seiner Situation aktiv zu bemächtigen. Da er unbewusst aber weiterhin von mütterlicher Liebe abhängig bleibt, erzeugt die gegen die Mutter gerichtete Aggression ein Schuldgefühl in ihm, das eine wirkliche Ablösung vereitelt.

Diese in der Verdrängung fortdauernde Mutterbindung ist das Fundament für Haukes Lebensentwurf. Der besteht darin, durch Errichtung eines perfekten Deiches die Macht des Meeres zu brechen. In Mythos und Religion gilt Wasser als ein weibliches Element, entsprechend wird das Meer als Urquell allen Lebens oft als Verkörperung des mütterlichen Prinzips schlechthin gesehen. Doch kommt im "Schimmelreiter", wie auch in anderen Texten Storms, nur die düstere, feindselige, mörderische Seite dieser "Großen Mutter" zum Tragen. Immer wieder erscheint das Meer als wütendes Monstrum, als chaotische, die Zivilisation blindwütig bedrohende Urkraft. Hauke ist der einzige im Dorf, der von Kindheit an dieser Naturgewalt trotzt. Schon als Junge liegt er bei Wind und Wetter "mutterseelenallein" am Deich. "Ihr könnt nichts Rechtes", schreit er dann den heranrollenden Wellen entgegen, wenn sie "ganze Fetzen von der Grasdecke mit ins Meer hinabreißen [...] so wie die Menschen auch nichts können." Und später, als Erwachsener, versucht er durch den neu berechneten Deich das Meer zu überlisten und so die Übergriffigkeit des mütterlichen Elements ein für allemal zu beseitigen. Das Meer soll in seine Grenzen verwiesen werden. Wie sehr es in diesem Kampf als lebendiges Wesen, ja als verschlingendes Raubtier erlebt wird, veranschaulichen die vielen Personifizierungen bei der Schilderung der Katastrophennacht, wo sich Sturm, Nacht und tosende Brandung zu einem unentwirrbaren Chaos vermengen:

"Nur Berge von Wasser sah er vor sich, die dräuend gegen den nächtlichen Himmel stiegen, die in der furchtbaren Dämmerung sich übereinander zu türmen suchten und übereinander gegen das feste Land schlugen. Mit weißen Kronen kamen sie daher, heulend, als sei in ihnen der Schrei alles furchtbaren Raubgetiers der Wildnis. Der Schimmel schlug mit den Vorderhufen und schnob mit seinen Nüstern in den Lärm hinaus; den Reiter aber wollte es überfallen, als sei hier alle Menschenmacht zu Ende; als müsse jetzt die Nacht, der Tod, das Nichts hereinbrechen."

Im Kampf des Deichgrafen Hauke Haien gegen das Meer wird der Mutter-Sohn-Konflikt ein zweites Mal auf einer anderen Ebene durchgespielt. Hier wird die mütterliche Position nicht mehr von einer sozial isolierten, leicht hexenhaften (4) alten Frau ausgefüllt, deren einzige – allerdings von Hauke unterschätzte – Macht in der Kraft ihres Fluches besteht, sondern von der gewaltigen Naturmacht des Meeres besetzt, so dass der Mutter-Sohn-Konflikt dem Thema des Kampfes Mensch gegen Natur unterlegt wird, und zwar in Form einer radikalen Polarisierung zwischen Zivilisation, Kultur, aufklärerischer (und männlicher) Vernunft auf der einen Seite und wilder (und weiblicher) Naturgewalt, Chaos und Irrationalem auf der anderen Seite. Wenn wir jetzt unsere Rekonstruktion des unbewussten Subtextes weiterverfolgen und den kulturkritischen Aspekt einmal beiseite lassen, so ergibt sich folgende Lesart: Die im Akt des Katermordes verdrängte vital-aggressive, naturhafte Seite des Rationalisten Hauke Haien erscheint in projizierter und auf höchste potenzierter Form in Gestalt seines Gegenspielers, des mütterlichen Meeres (5). So wie er seine affektive Mutterbindung mit dem Katermord gewaltsam abtöten wollte, sie jedoch nur verdrängen konnte, so tritt sie ihm jetzt in entfesselter Aggressivität von außen entgegen: als böse, zornige, übergriffige, verschlingende Mutter, die sich ihren verlorenen Sohn mit Gewalt zurückholt. Oder, analytischer gesprochen: der unbewusste, stark angstbesetzte Wunsch nach Verschmelzung mit der Mutter kann von der Verdrängung, symbolisiert durch den schützenden Deich, nicht länger niedergehalten werden, das Verdrängte durchbricht das Abwehrsystem und überflutet das sich auflösende Ich. So wird die eigentlich zutiefst gewünschte Vereinigung mit der Mutter zwar erreicht, aber um den Preis der Auflösung des Ichs. Wenn Hauke sich mit den Worten "Herr Gott, nimm mich; verschon die andern!" in die Fluten stürzt, so ist dies nur eine Rationalisierung des Konflikts. Im Christentum ist bekanntlich Selbstmord eine Todsünde, und der Versöhnungsversuch durch ein Menschenopfer erinnert doch eher an Kulte archaischer Naturgottheiten. Gerade die Überbleibsel eines solchen Glaubens hatte Hauke ja mit der Verhinderung des Deichopfers bekämpft. So scheint mir auch diese Inkohärenz zu bestätigen, dass Haukes Tod als Zusammenbruch der Verdrängung eines ursprünglichen, auf die Mutter gerichteten Begehrens zu verstehen ist. Verursacht wird der Durchbruch des Verdrängten durch einen Defekt im Abwehrsystem (symbolisiert durch die schadhafte Stelle im alten Deich, die wegen Haukes krankheitsbedingter Durchsetzungsschwäche wider besseres Wissen nicht ausgebessert wurde). Der gefährliche Priel wurde vom neuen Deich, der zwar in sich technisch perfekt ist, aber die Naturprozesse nicht aufheben kann, nämlich so umgeleitet, dass er nun frontal auf die brüchige Stelle des alten Deiches auftrifft, an dessen Seite er bisher friedlich entlanggeströmt war. Hier zeigt sich, auf einer kulturkritischen Betrachtungsebene, die begrenzte, oft auch kontraproduktive Macht aufgeklärt-technischer Naturbeherrschung, und in psychoanalytischer Perspektive die Prekarität von unbewussten Abwehrmechanismen wie der Verdrängung. Denn solange der Konflikt nur verdrängt, aber nicht wirklich bewältigt wird, wiederholt er sich unter bestimmten Voraussetzungen und greift das instabile Ich immer wieder an. Die Analogie zwischen den Formen der Unterdrückung äußerer und innerer Natur liegt in ihrer Unversöhnlichkeit (auch in diesem Wort negiert sich der Sohn): So wie Hauke sich selbst Gewalt antut, um seine Mutterbindung abzutöten, unterwirft die instrumentelle Vernunft der Aufklärung sich rücksichtslos die äußere Natur, um sie auf ein bloßes Substrat von Herrschaft zu reduzieren. Beide Abwehrmechanismen erreichen in ihrer Polarisierung jedoch letztlich das Gegenteil des Intendierten, indem sie zur Selbstzerstörung des Subjektes führen, einmal durch die nicht zu bändigende Wiederkehr des Verdrängten, zum anderen durch Entfremdung der Menschen von der Natur und Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen. Dasjenige aber, was in der "Schimmelreiter"-Novelle verdrängt wird und damit als ihr unbewusstes Grundthema angesehen werden kann, ist der nicht bewältigte Wunsch nach Vereinigung mit der archaischen Mutter (6). Dass der vom Sohn heftig abgewehrte und erbittert bekämpfte regressive Wunsch nach Verschmelzung mit der Mutter der unbewussten Tiefenstruktur dieser Novelle zugrunde liegt, darauf deutet auch die sexuell offensichtlich verkümmerte Beziehung zwischen Hauke und seiner Frau Elke hin: Der Deichbau nimmt alle seine Kräfte in Anspruch, so dass er oft erst nach Mitternacht neben seiner nur scheinbar schlafenden Frau ins Bett sinkt, die Ehe bleibt acht Jahre lang kinderlos und Wienkes Geburt steht unter keinem guten Stern. Auch muss man sagen, dass Elke eher hinter Hauke steht, als dass sie ein wirkliches Gegenüber für ihn wäre. Dieses Hinter-ihm-Stehen zeigt sich buchstäblich beim Wettkampf im Eisboseln, gewissermaßen dem zweiten Teil seiner Initiation, diesmal in die soziale Gemeinschaft, die letztlich aber ebenso scheitert wie die Unterwerfung der Triebnatur. Als Hauke zum entscheidenden Wurf ansetzt, der dem Marschdorf den Sieg bringt, fällt Elke seinem Rivalen Ole Peters in den Arm, während dieser in seinem Rücken versucht ihn zu behindern. Ohne Elkes Zuspruch wäre Hauke auch erst gar nicht zum Wettkampf angetreten, ohne sie wäre er nicht Deichgraf geworden, ohne ihre Unterstützung hätte er in den Konflikten mit der Dorfgemeinschaft wohl kaum bestanden. Kurz: Wenn Elke die Schenkung ihrer Güter an Hauke vor der Heirat mit dem Ausspruch rechtfertigt: "Einem rechten Manne wird auch die Frau wohl helfen dürfen", so bleibt dabei unerwähnt, dass es eigentlich sie ist, die Hauke erst zum "rechten Manne" macht. Insofern ist das böse Wort, das Hauke so schwer kränkt und ihn dann zu dem gewaltigen Deichprojekt anspornt, mit dem er es allen zeigen will, nämlich, dass der alte Deichgraf von seines Vaters, der neue aber von seines Weibes wegen wurde, keineswegs unberechtigt, und das nicht nur in ökonomischer Hinsicht. Indem Elke ständig die Defizite ihres Mannes kompensiert, übernimmt sie eher die Rolle einer Mutter als die einer Ehefrau, d.h. eines gleichberechtigten Gegenübers in einer auf Austausch beruhenden Partnerschaft. Zum Schluss erfüllt sich der Haukes Leben überschattende Mutterfluch: Das, was er sich scheinbar als autonome Existenz aufgebaut hat, seine Familie, seine soziale Position, wird von der Flut vernichtet. Einzig der neue Deich, das Abwehrsystem, bleibt unversehrt erhalten, und zwar weit über seinen Tod hinaus. Und so klingt die Novelle mit der folgenden Bemerkung des Rahmenerzählers aus:

"Am andern Morgen, beim goldensten Sonnenlichte, das über einer weiten Verwüstung aufgegangen war, ritt ich über den Hauke-Haien-Deich zur Stadt hinunter."

Indem die innere Rahmenerzählung zu Beginn den gespenstischen Schimmelreiter in stürmischer Nacht auf dem Deich zeigt und am Schluss den grandiosen, jeder Sturmflut trotzenden Hauke-Haien-Deich in den Blick nimmt, der sich aber "über einer weiten Verwüstung" erhebt, macht sie die ganze Ambivalenz der Lebensgeschichte des Hauke Haien deutlich, welche sich jeder eindeutigen Bewertung entzieht. Zum einen ist Hauke auch nach seinem Selbstmord weiterhin vom Fluch getroffen, indem er als Wiedergänger auf dem Deich herumspuken muss, denn Flüche kann auch der Tod nicht aufheben. Zum anderen tut er aber gerade dadurch seinen Mitmenschen ein gutes Werk, denn er kündigt die Gefahr einer Sturmflut an. Zum einen war sein Deichprojekt ein großer Erfolg, denn der Hauke-Haien-Deich ist unangreifbar von der Gewalt des Meeres. Zum anderen erhebt er sich inmitten weiter Verwüstung, d.h. dass er in sich selbst zwar vollendet ist, aber seiner Funktion als Abwehrsystem nur zum Teil gerecht werden kann, denn er leitet den gefährlichen Priel nur um, so dass dieser an anderen, schlechter gesicherten Stellen durchbrechen kann. Dennoch sind diejenigen, die im Marschdorf unmittelbar hinter dem Hauke-Haien-Deich leben, vor der Flut geschützt, wissen es Hauke aber nicht zu danken, da sie ihn, jedenfalls wenn man sich der aufklärerischen Version seiner Geschichte anschließt, "zum Spuk und Nachtgespenst" machen. Damit bleibt der ambivalente Charakter Hauke Haiens und seines Deiches bis zum Schluss der Erzählung und über den Schluss hinaus erhalten. Denn diese tragisch endende Lebensgeschichte, die sich auf einer Verdrängung aufbaut, deutet, über das Schicksal des Einzelnen hinausgehend, auch auf kollektive Verdrängungsprozesse hin. Gemeint sind die durch den Subtext des "Schimmelreiters" sowie die eingeflochtenen perspektivierenden Erzählungen wie das Märchen vom Wasserweib angedeuteten intimen Bindungen der Menschen an die Natur, an die äußere ebenso wie an die innere. Verdrängt werden diese affektiven Bindungen durch die sich alles unterwerfende instrumentelle Vernunft der modernen Technik und Ökonomie, deren absolutistischer Herrschaftsanspruch in gleicher Weise die äußere Umwelt wie die menschliche Innenwelt beschädigt.

Zum Abschluss möchte ich noch eine Kindheitserinnerung Theodor Storms vorlesen, die die hier vorgelegte Lesart der Novelle als Bearbeitung eines unbewussten Mutter-Sohn-Konflikts zu bestätigen scheint.

Storms Mutter hatte ein kühles Verhältnis zu ihrem ältesten Sohn, der sich mehr von seiner Großmutter, der bereits erwähnten Magdalena Feddersen, beachtet fühlte, der Tochter der in die Rahmenerzählung der "Schimmelreiter"- Novelle eingegangenen Urgroßmutter Elsabe, einer Frau "von geringen geistigen Anlagen, aber von großer Herzensgüte und ewig heiterem Temperamente". Über Storms Mutterbeziehung wissen wir aus seinen Briefen nur wenig. Paul Barz schreibt darüber in seinem Buch "Der wahre Schimmelreiter", in dem er zahlreiche Parallelen zwischen dem Autor und seinem Helden Hauke Haien aufzeigt: "Hauke wächst offenbar als Halbwaise heran. Von Storm wissen wir, wie spröde, kaum vorhanden seine Beziehung zur Mutter war: Selbst noch an ihrem Totenbett steht er in kühl beobachtender Distanz."

Der vielleicht aufschlussreichste Text Storms bezüglich des Verhältnisses zu seiner Mutter ist die folgende Kindheitserinnerung, die er seinem Freund Paul Heyse im Jahre 1883, also als 66-Jähriger, mitteilte, und zwar weil er fürchtete, dass Heyse sich von ihm abwenden könnte (Storm litt sein Leben lang unter panischen Verlassenheitsängsten). Hintergrund ist, dass der kleine Theodor einmal Waren für eine selbstgebastelte Jahrmarktsbude brauchte und dass die sonst abweisende Mutter diesmal alles stehen und liegen ließ und gänzlich unerwartet stundenlang mit dem kleinen Sohn den Dachboden nach geeigneten Gegenständen durchstöberte. Er schreibt dazu an Heyse Folgendes:

Es war eine gute Mutter, meine Mutter; aber sie hatte doch gegen die allzu überschwangliche Güte meiner Großmutter (ihrer Mutter) in gewisser Weise Stellung genommen; und daher wurde ich von dieser so augenblicklichen und Alles übersteigenden Erfüllung meiner Wünsche ganz betäubt in meinem Kindskopfe. Tagsüber, als ich mit dem Reichtum in meiner Bude wirthschaftete, vergaß ich zwar darum; aber als ich Abends oben allein in meinem Trallenbette lag, überkam es mich wieder: Diese unerhörte Güte mußte eine ganz bestimmte Ursache haben; was konnte es sein? Und als ich weiter grübelte, hatte ich es endlich herausgefunden: meine Mutter wollte mich ermorden! Ein Entsetzen überfiel mich, und als meine Großmutter, wohl um, wie sie pflegte, noch einmal nach mir zu sehen, in die Stube kam, fand sie mich in Todesangst und Thränen über mein erbärmliches Geschick.

Es löste Todesängste aus in dem jungen Storm, wenn seine Mutter ihm doch einmal zärtliche Zuwendung entgegenbrachte, obwohl sie ja eigentlich damit seine tiefsten Wünsche erfüllte. Das Vertrauensverhältnis zwischen Mutter und Kind scheint zerrüttet gewesen zu sein, von keinem Urvertrauen mehr getragen. Anscheinend waren durch viele frustrierende Erfahrungen mit der Mutter diese Wünsche aber bereits verdrängt worden, so dass ihre unerwartete Erfüllung eine heftige Angstreaktion hervorrief. Auf der Grundlage der bereits erlebten Enttäuschungen und Verlusterfahrungen wäre ein Sich-Einlassen auf die unbegreifliche plötzliche Güte der Mutter mit dem Risiko verbunden gewesen, von neuem zurückgestoßen und verlassen zu werden, was in der Fantasie des Ermordetwerdens seinen drastischen Ausdruck findet. Dass Storm diese Szene aus seiner Kinderzeit als altem Mann einfällt und er sie auf sein Verhältnis zu dem Freund überträgt, belegt, dass die problematische Mutterbeziehung lebenslang sein Gefühlsleben prägte. Auch dadurch wird verständlich, dass in der Bearbeitung des Mutter-Sohn-Konfliktes in der "Schimmelreiter"-Novelle der Sohn vom Willen nach Befreiung aus einer Bindung beherrscht wird, die ihn nicht wirklich leben lässt. Die feindseligen und irrationalen mütterlichen Kräfte können als Ausdruck der Angst vor dem verdrängten Wunsch des Sohnes nach Vereinigung mit der Mutter gedeutet werden, gegen den der Sohn sein Leben lang Abwehrstrukturen aufbaut. Die völlige Abwesenheit der Mutter auf der Ebene der manifesten Geschichte reflektiert dagegen Storms lebensgeschichtliche Erfahrung mit einer Mutter, die sich offensichtlich frühzeitig von ihm abgewandt hat.

Ich habe mit meiner Interpretation versucht, einen Eindruck von der Vielschichtigkeit der "Schimmelreiter"-Novelle zu vermitteln. Wenn wir abschließend noch einmal nachvollziehen, wie uns Lesern die Lebengeschichte Hauke Haiens vom Text präsentiert wird, so müssen wir eine Vielzahl von Vermittlungsinstanzen erwähnen: Wir lesen den Bericht eines alten Mannes, der sich in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts an eine Geschichte zurückerinnert, die er als Junge in einem Zeitschriftenheft aus den 30er Jahren an der Seite seiner Urgroßmutter gelesen und seitdem niemals aus dem Gedächtnis verloren hat. Dieser Erzähler, der starke Ähnlichkeiten mit Theodor Storm selbst aufweist, gibt nun den Bericht eines anderen Erzählers wieder, eines Mannes, der im 3. Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts seinen Ritt über einen nordfriesischen Deich wegen schlechten Wetters und einer überaus unheimlichen Begegnung abbricht und von einem dort ansässigen Dorfschulmeister eine Geschichte erzählt bekommt, die dieser auch nur vom Hörensagen kennt und die mit Hauke Haiens Tod im Jahr 1756 endet. Und so, wie die Erzählung rückwärts die Chronologie über verschiedene Vermittlungsinstanzen durchläuft, um zur halb verschütteten Wahrheit einer Lebensgeschichte vorzudringen, die freilich immer wieder in Frage gestellt wird von einem Text, der sich ständig selbst unterläuft, so sind wir durch eine sukzessive Vertiefung der Deutungsarbeit zur Erkenntnis unbewusster Zusammenhänge gelangt. Hinter der manifesten Lebensgeschichte Hauke Haiens erschloss sich eine latente Geschichte, in der der verdrängte Mutter-Sohn-Konflikt im Zentrum steht und der die vom Text schon angedeutete Verbindung zum Autor selbst in ein neues Licht rückt. Die kunstvoll gestaffelten Erinnerungsperspektiven führen den Autor und den Leser aus sicherer zeitlich-räumlicher Distanz an den unbewussten Konflikt heran und verstellen doch zugleich wieder den Zugang. Denn die letzte und entscheidende Erinnerungsperspektive, die den traumatischen Mutterverlust in früher Kindheit in den Blick nehmen müsste, wird nicht geöffnet, da sie dem Bewusstsein nicht zugänglich ist. Sie ist die Leerstelle, um die herum die Erzählung organisiert ist. Damit soll nicht gesagt werden, dass Storms eigener Mutterkonflikt die eigentliche Bedeutung des Werkes ist. Er bildet nur seine tiefste Bedeutungsschicht. Die sich über dieser Matrix errichtenden Oppositionen und Konflikte, z.B. zwischen Triebnatur und Zivilisation, zwischen Mensch und Natur, zwischen männlichem und weiblichem Umgang mit der Natur, zwischen Aberglauben und Aufklärung, zwischen dynastisch-feudalistischen und bürgerlichen Sozialstrukturen und Denkweisen, die sich immer wieder perspektivisch durch Neues ergänzen lassen und auf der Unabschließbarkeit des Textes gründen, diese Konflikte sind damit weder aufgehoben noch entwertet, sondern in ein neues Verhältnis gesetzt.

Als Überleitung zum weiteren Abendprogramm möchte ich nun schließen mit einigen Versen aus dem "Oktoberlied", in dem Storm sich auch einmal von seiner optimistischen Seite zeigt:

Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja vergolden!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.




Anmerkungen

(1) Aufgrund seines Widerwillens gegen die Gängelung durch die dänischen Behörden nach der Niederlage der Schleswig-Holsteiner im Befreiungskampf gegen die dänische Herrschaft

(2) David Artiss weist auf den Glauben der Seefahrer und Küstenbewohner hin, dass sich in Möwen die Seelen der Ertrunkenen – v.a. Fischer und Schiffer – verkörpern.

(3) Damit soll freilich nicht gesagt werden, dass Trin‘ Jans in Wirklichkeit Hauke Haiens Mutter ist. Eine solche Behauptung wäre sinnlos und mit dem Text der Erzählung nicht zu vereinbaren. Es geht auch nicht darum, den Text der Erzählung zu korrigieren, sondern Tiefenstrukturen zu rekonstruieren. In diesen Tiefenstrukturen, die dem naiven Leser unbewusst sind (und höchstwahrscheinlich auch dem Autor), gibt es keinen Hauke Haien und keine Trin‘ Jans mehr, sondern Positionen der Mutter, des Sohnes, ggf. auch des Vaters und der Geschwister, die in einer bestimmten Konfiguration stehen. Wer also behaupten würde, dass Trin‘ Jans eigentlich Hauke Haiens verleugnete Mutter ist, würde die verschiedenen Analyseebenen durcheinanderbringen.

(4) Darauf deuten die leitmotivisch wiederkehrenden erhobenen knöchernen Hände mit den gekrümmten Fingern und ihre hellseherischen Fähigkeiten hin, vgl. Alfred D. White und Walter Silz.

(5) Dieser Vorgang der Projektion eigener destruktiv-aggressiver Phantasien in die archaische Mutter ist ein Kernstück der Objektbeziehungstheorie Melanie Kleins (als die eine Seite der Objektspaltung): Das Gegenstück zur Verschmelzung mit dem idealisierten guten Selbstobjekt bildet die projektive Auslagerung der eigenen destruktiven und aggressiven Phantasien sowie der paranoiden Ängste in die äußere Objektwelt und deren Lokalisierung in der bösen, übelwollenden Brust-Mutter, von der nun in scheinbar umgekehrter Richtung die Vernichtungsdrohungen auszugehen scheinen, wodurch die Verfolgungsangst wiederum intensiviert wird (vgl. Narzissmus-Papier).

(6) An dieser Stelle würden sich entsprechend der jeweiligen psychoanalytischen Schule verschiedene Deutungsansätze ergeben: Folgt man der Freudschen Triebtheorie, müsste man von einem Inzestwunsch ausgehen, der ja auch in einigen Formulierungen der Trin‘ Jans seinen recht unverblümten Ausdruck zu finden scheint. Vertreter anderer psychoanalytischer Richtungen würden hier den sexuellen Aspekt eher ausklammern und den Wunsch nach Verschmelzung anders deuten, etwa als Regression ins intrauterine Leben oder zu einer archaischen Fusion mit dem mütterlichen Selbstobjekt, weil aufgrund früher traumatischer Versagungen die guten und bösen Objektimagines nicht in das sich entwickelnde Selbst integriert werden konnten, was den Aufbau einer narzisstischen Abwehrstruktur in Form eines Größen-Selbst erforderlich machte. Ich möchte mich aber hier nicht für eines dieser Deutungsmodelle entscheiden, da dies ein Problem der psychoanalytischen Theoriebildung ist und den Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Studie sprengen würde. Entscheidend ist vielmehr, dass man mit einem weit gehend konsensfähigen psychoanalytischen Grundwissen bis zu diesem Punkt der Textinterpretation gelangen kann.



Christian Neumann: Zwischen Paradies und ödem Ort.
Unbewusste Bedeutungsstrukturen
in Theodor Storms novellist. Spätwerk.
Würzburg: Königshausen u. Neumann 2002. 200 S.
(Epistemata. Würzburger wiss. Schriften. R. Literaturwiss. 385.)




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Preußische Bildungsreformer im Geiste des Neuhumanismus

Der Diskurs des Unbewussten in Storms Chroniknovelle „Aquis Submersus“

Humboldts
Bildungserbe

Der Bergmann
von Falun

Homers Odyssee -
nur ein Schiffer-
märchen?

Theodor Storms
"Schimmelreiter"

Johann Gottfried Herder

Die Lebensfahrt auf dem Meer der Welt. Ein zweitausendjähriger Topos.

Anmerkungen zur Reichskrone

Amerika.

Der Sänger erzählt.
Mündliche Poesie
und Trance

Pergolesi:
"La serva padrona"

Robert Musil. Ein Mann ohne Eigenschaften?

Allgemeine Aspekte der Gruppenpsychologie

Der Golem

Terror auf dem "Zauberberg"

Richard Rorty

Der Roman
"Flächenland" (1884)

Die Schlacht von Großbeeren

Systemtheorie:
Niklas Luhmann

Ernst Jünger - Das Abenteuerliche Herz

Woody Allen - Eine Kurzcharakterisierung

Safranski: Nietzsche

Grönland

Der heilige Wald von Bomarzo - Gartenbaukunst im Manierismus

Die Sloterdijk-Debatte: S(ch)ichtung eines Skandals

Oswald Spengler:
Der Untergang des Abendlandes

Konfuzianismus

Helmholtz als Kulturträger (engl.)

Die Sphären
Peter Sloterdijks

Der Berliner Künstler Martin Gietz

Goyas "Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer"

Die christliche Zeitrechnung

Geschichte des Fußballs

Neue
Antriebstechniken für
den Individualverkehr

Die Dreyfus-Affäre

Kaspar Hauser - ein vergessener Mythos?

Die wiedertäuferischen Hutterer

Relativitätstheorie
und Philosophie

Der Döner

Die Aufklärung neu denken - nicht wegdenken

Aspekte des sakralen Königtums im alten Ägypten

Meinungsfreiheit als Stütze der demokratischen Gesellschaft

Eine Geschichte des Schachspiels

Anomie und Fundamentalismus

Kleine Geschichten zur Sexualgeschichte

Theodor Herzl

Der Reichstagsbrandprozeß

Elemente der Philosophie
Karl Poppers

Goethe
und der Basaltstreit

Soziologie des
"Ganzen Hauses"

Aspekte der Chaostheorie und der fraktalen Geometrie

Konstruktivismus:
Paul Watzlawick

Die historische Mittwochsgesellschaft

Siedlungsgeschichte Zehlendorfs


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