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Relativitätstheorie und Philosophie

49. Sitzung der Humboldt-Gesellschaft am 10.12.1997 von Bernd Nehrkorn (Gastvortrag)



Wie kommt man dazu, sich mit einem auf den ersten Blick so sperrigen Thema zu beschäftigen? Es ist unser aller Ur-Sehnsucht nach Harmonie, die uns hoffen läßt, zu erkennen was die Welt im innersten zusammenhält. Wer träumt nicht davon, das Wahre, Schöne und Gute in ein metaphysisches Panorama zu fügen, in dem die drei miteinander zu tun haben oder gar, welch paradiesischer Zustand, eins sind? Schrödinger träumte von der Weltformel, Stephen Hawking träumt immer noch davon, er steht damit allerdings heute ziemlich allein auf weiter Flur.

Um Harmonie oder – wissenschaftlicher - Kohärenz herzustellen, trifft man einige theoretische Festlegungen und muß dann Gesetze so formulieren, daß alle Erfahrungen (Experimente) zutreffend beschrieben und auch prognostiziert werden können.

Für viele hundert Jahre hat die Newton’sche Mechanik "Masse x Beschleunigung = Summe der angreifenden Kräfte etc." einen Ausschnitt der physikalischen Welt zutreffend beschrieben und damit die wissenschaftliche und technische Revolution (bis heute) ermöglicht. In der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte Maxwell seine Theorie der Elektrodynamik, die ebenfalls (wie Newton) einen Teil der Wirklichkeit zutreffend beschrieb. Bewegen beide Systeme sich jedoch gleichförmig zueinander, so folgt die Newton’sche Mechanik der Galileo-Transformation die Maxwell’schen Gleichungen jedoch der Lorenz-Transformation, d.h. die beiden Beschreibungen der Wirklichkeit passen nicht zueinander, sie sind inkohärent.

Einstein löst dieses Problem - er harmonisiert die beiden Naturbeschreibungen - indem er in der speziellen Relativitätstheorie statt des klassischen Newton’schen Impulses den relativistischen Impuls einführt, der sich von letzterem durch den Faktor


unterscheidet, wobei v die Geschwindigkeit des Systems ist und c die Lichtgeschwindigkeit. Dieser Faktor ist bei kleinem v fast 1, d.h. die Newton’sche Beschreibung wird (mit v = 0) ein Sonderfall der Einstein’schen Theorie. Damit genügen sowohl Newton als auch Maxwell der Lorenz-Transformation. Das ganze macht nur Sinn, wenn die Lichtgeschwindigkeit eine universelle Konstante ist. Zu gleicher Zeit machte Michelson seinen berühmten Versuch, der die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit bestätigte; er und Einstein sollen von des anderen Arbeit nichts gewußt haben.

Zu seiner allgemeinen Relativitätstheorie gelingt Einstein die Einbeziehung der Gravitation in sein Theoriegebäude, indem er nicht mehr unterscheidet zwischen Beschleunigungen, die durch Kräfte entstehen und solchen, die durch Gravitation entstehen.
Das wichtigste Ergebnis der allgemeinen Relativitätstheorie ist die Äquivalenz von träger und schwerer Masse. Das wichtigste Ergebnis der speziellen Relativitätstheorie ist die Äquivalenz von Masse und Energie
.

Damit sind einige Kohärenzprobleme gelöst. Der Makrokosmos läßt sich mit Einstein zutreffend beschreiben und prognostizieren. Für den Mikrokosmos aber gilt die Quantenmechanik, die oft nur quantitative Aussagen macht und dem "Zufall" Raum läßt. Hier haben wir eine neue Inkohärenz. Einstein konnte und wollte mit der Quantenphysik und ihren "Ungenauigkeiten" nichts anfangen. Sein (philosophischer) Ausspruch: "Der Alte würfelt nicht", d.h. Gott überläßt nichts dem Zufall, ist als grandioser Irrtum eines grandiosen Genies in die Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts eingegangen.

Dieser Beitrag hat auf den ersten Blick wenig mit Philosophie zu tun. Aber beschäftigen sich Philosophie und Physik nicht beide mit Raum und Zeit, mit Prognostizierbarkeit und Deduzierbarkeit? So sehr bis zum ausgehenden Mittelalter Philosophie und insbesondere Theologie Einfluß nahmen auf Weltbild und -erklärung durch die Physik, so sehr hat seither die Physik die Philosophie herausgefordert, angespornt und gelegentlich ins Abseits gestellt. Ist die Menschheit also auf dem Weg zur allumfassenden Kohärenz, zur Weltformel? Höchstwahrscheinlich nicht, wenn auch der Ausgang theoretisch ungewiß ist. Diese Ungewißheit befindet sich aber nunmehr auf höherem Niveau.

Bernd Nehrkorn