Soziologie des "Ganzen Hauses"
10. Sitzung der Humboldt-Gesellschaft am 30.05.1995 von Viktor Hartmann
In der frühen Neuzeit bildete noch das Haus - und nicht die Familie - die zentrale
Lebensordnung. Das Haus schützte die Menschen und bot ihnen Wohnstatt, aber es war
auch der Ort, wo sie arbeiteten, feierten und sich unterhielten.
Zumeist handelte es sich um Einzelhäuser, sie waren aber je nach Siedlungsform in
eine Dorf- oder Stadtgemeinde eingebunden. Die Struktur des Hauses spiegelte das
Verhältnis von Arbeits- und Wohnbereich.
Das Haus bildete ein Friedensbereich, Hausfriedensbruch galt als schweres Vergehen.
Ein Schlag gegen Tür und Fenster wurde schwerer gehandelt als ein Hieb auf den Gegner in
einer Gasse. Nicht nur für den Bürger in der Stadt gilt der Satz "Domus sua pro munitione
habetur" auch der Bauer sollte nach dem Dorfrecht in seinem Haus so sicher sein , wie der
Herzog in seiner Burg. Diesen Schutz mußte der Hausherr garantieren, sonst wäre er der
Gesellschaft nicht gerecht geworden. Die Ordnung war also allein der Gewalt des Hausherrn
unterworfen, aber diese Ausübung wurde von der staatlichen Obrigkeit kontrolliert.
Das Haus meint schließlich eine Lebensgemeinschaft, dazu gehörten alle, die unter
seinem Dach wohnten und dem Hausvater "unterstanden", weil er zugleich Hausbesitzer und
"Arbeitgeber" war. Zur Hausgemeinschaft gehörten: leibliche Kinder, Stiefkinder (auch
unehelich geborene), Anverwandte, Inleute (die nicht Verwandten, die der Gewalt des
Hausherrn unterstanden) Altenteiler sowie das Gesinde - meist unverheiratete- sowie Altenteiler (Renter).
Alle diese Leute zählten zum Haus. Die Blutsverwandtschaft im Haus war von besonderer
Bedeutung, denn erben konnte nur ein Sohn oder eine Tochter. Ansonst unterschied man
rechtlich die Kinder kaum vom Gesinde. Nichterbberechtigte Kinder haben sich oft bei
ihrem Vater als Knechte verdingt.
Das Haus bildete eine Einheit von Aufgaben, die heute getrennt sind. Gleichwohl war
das Haus auch in der frühen Neuzeit nicht völlig unabhängig:
1. Das Haus unterlag der Gerichtsbarkeit und dem Steuermonopol. Ein Hausherr konnte nicht
tun und lassen, was er wollte. Ein Streit im Hause konnte vor Gericht kommen.
2. Das Haus wurde in ein regionales Marktnetz eingebunden, wo eine Arbeitsteilung
stattfand, die die Selbstversorgung sehr einschränkte.
3. war das Haus zumeist in eine Dorfgemeinschaft integriert, die die gemeinsame Regelung von Angelegenheiten, wie etwa Wasserversorgung, vorsah.
Die Arbeit vollzog sich nicht nur im Haus oder auf eigenem Boden, der ganze
Hausverband stellte die Arbeitsorganisation dar. Man arbeitete, aß und feierte gemeinsam.
"Freizeit" gab es nicht. Die strukturelle Einheit hing von der Lebenswelt ab. Es gab keine ideale Hausfamilie, denn das Haus eines Bauern unterschied sich vom Haus des Handwerkers, dieses wiederum von dem des Kaufmanns.
Der Wandel der Familienstruktur vom "ganzen Haus" zur modernen Kernfamilie wird als
ein Prozeß der Funktionsenttastung beschrieben. Er wurde durch Entwicklungen in drei
Bereichen verursacht: Bürokratisierung, Verstädterung und die beginnende Industrialisierung.
Diese Entwicklung änderte die Grundlagen der Beziehungen zwischen Menschen.
Hervorzuheben sind hier die
Übergabe von Gerichtsfunktionen an den Staat, die stärker werdende
Schutzfunktion sozialer Einrichtungen, die Trennung von Haus und Arbeit sowie die Bildung. Das Schulsystem schuf eine Möglichkeit, andere Berufe (jenseits der Haustradition) zu erlernen.
Die Einbuße der Schutz-, Gerichts- und der Produktionsfunktion minderte die
patriarchale Stellung des Hausherrn. Der Hausherr mußte mehr als früher auf die
Interessen von Frau und Kindern eingehen.
Mit dem Verlust dieser Funktionen entstand ein Freiraum, der eine
Möglichkeit für das Leben im "Privaten" schuf. In diesem privaten Raum bildete sich eine
neue Intimität, die zum Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft beitrug.
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